Es dauert nur Minuten, bis Corona-Aerosole überall im Büro verteilt sind

Martin Kriegel, Deutschlands führender Experte für die Belüftung von Räumen, erklärt, wie sich Infektionen verhindern lassen, welche Belüftung die sicherste ist und was Arbeitnehmer ihren Chef jetzt fragen sollten.

Immer mehr wissenschaftliche Studien deuten darauf hin, dass Aerosole ein wichtiger Überträger des Coronavirus sind, vor allem in Innenräumen. Martin Kriegel weiß, wie man gegen diese tückischen Mikrotröpfchen vorgeht. Er leitet an der TU Berlin das auf Energie- und Lüftungstechnik spezialisierte Hermann-Rietschel-Institut.

Herr Kriegel, nehmen wir mal an, einer meiner Kollegen, der mit Corona infiziert ist, kommt ins Büro. Bin ich auf der sicheren Seite, wenn ich mehr als 1,5 Meter Abstand halte?
Martin Kriegel: Nicht unbedingt. Es gibt neben der Tröpfcheninfektion, die sich nur in einem Umkreis von 1,5 Metern verbreitet, und der Schmierinfektion über Türgriffe oder Schreibtische auch noch eine Übertragung über Aerosole. Dabei befinden sich die Viren in mikroskopisch kleinen Tröpfchen, die wir über die Atemluft ausstoßen. Die schweben praktisch in der Raumluft. Sie werden permanent von jeder infizierten Person abgegeben. Und alle anderen Personen atmen sie ein, auch in sehr weiter Distanz.

Wie bewegen sich Aerosole denn in einem Büro?
Sie bewegen sich, ohne dass wir das spüren. Selbst wenn es praktisch keine Luftströmung gibt, dauert es nur Minuten, bis sie sich überall im Büro verteilt haben. Wenn wir etwa eine typische Luftbewegung von nur fünf Zentimetern pro Sekunde haben, merkt man das überhaupt nicht. In einer Minute sind die Aerosole dann trotzdem schon drei Meter weiter gezogen. So kann man sich ausrechnen, wie schnell und einfach sich die Erreger im Raum bewegen können.

Was setzt sich die Raumluft denn in Bewegung?
Dafür sorgen alle Wärmequellen, der Computer, der Beamer, die Kaffeemaschine – und wir selbst. So entsteht ein Luftstrom, der nach oben gerichtet ist, weil warme Luft ja immer nach oben steigt. Gerade wir Menschen sorgen für eine sehr große Luftbewegung. Oberhalb unseres Kopfes beträgt der Luftstrom 30 bis 40 Zentimeter pro Sekunde. Die Aerosole sind also binnen weniger Sekunden an der Decke und verteilen sich dort in alle Richtungen. Und immer, wenn etwas nach oben strömt, strömt an anderer Stelle etwas runter. Das macht das Büro zu einem großen Mixer.

Büro


Macht eine Lüftungsanlage im Büro die Sache besser oder schlechter?
Ich werde immer wieder gefragt, ob solche Lüftungsanlagen Virenschleudern sind. Das würde ich klar verneinen. Wenn binnen zwei Minuten die Aerosole sowieso überall im Raum sind, auch ohne Lüftungsanlage, dann sind sie es mit einer Lüftungsanlage vielleicht in anderthalb Minuten. Das ist also unwesentlich, weil wir uns stundenlang in den Räumlichkeiten aufhalten. Dafür aber bringen die Anlagen Frischluft in den Raum, das verdünnt die Aerosolkonzentration. Sie werden aus dem Raum abtransportiert und gegen frische Luft ersetzt. Das ist dann sehr gut.

Typische Belüftungsanlagen haben Frischluftgebläse und Altluftansaugung direkt nebeneinander. Heben die sich nicht gegenseitig auf?
Nein. Die müssen nicht räumlich voneinander getrennt sein. Die Zuluft wird mit hoher Geschwindigkeit eingeblasen, sodass es keinen sogenannten Kurzschluss mit der abgesaugten Luft geben kann. Das haben die Belüftungstechnikexperten, die solche Anlagen konzipieren, berücksichtigt.

Trotzdem, gibt es Konzepte, die noch besser sind?
Erstmal muss klar sein, in einem normalen Büro lässt sich keine aerosolfreie Luft herstellen. Es gibt aber verschiedene Prinzipien, die unterschiedlich gut funktionieren. Bei einer klassischen Mischlüftung werden die Aerosole mit Frischluft verdünnt. Diese Frischluftzufuhr wird hier meist an der Decke eingebracht. Dann gibt es aber auch noch die Schichtlüftung. Dabei wird die Zuluft am Boden eingeblasen. So entsteht ein regelrechter Frischluftsee. Diese Luft strömt dann an den Menschen nach oben. An der Decke sammelt sich dann die warme, verunreinigte Luft, wo sie abgesaugt wird. Das ist die effektivste Art der Belüftung, weil ich mich dabei eigentlich immer in sehr sauberer Frischluft befinde. Die Technik ist aber leider nicht so oft verbaut.

Wie lange halten sich denn Aerosole typischerweise in der Luft?
Je stärker die Luftbewegung ist, desto schneller lagern sich Aerosole an Oberflächen ab. Dasselbe gilt auch, wenn sehr viele Oberflächen existieren, wie etwa in einem Zug oder Auto. Aber in größeren, normalen Büroräumlichkeiten kann es Stunden dauern, bis sie irgendwo auf eine Oberfläche treffen und haften bleiben.

Lassen sich denn Räume durch Belüftung überhaupt coronasicher machen?
Medizinisch ist es bisher unbekannt, wie viele Viren nötig sind, um eine Infektion auszulösen. Das RKI sagt aber klar, dass jemand, der sich in schlecht belüfteten Räumen lange aufhält, ein hohes Risiko eingeht. Wir können immerhin die Konzentration der Aerosole möglichst niedrig zu halten, indem wir die Luftqualität erhöhen. Außerdem können wir die Aufenthaltsdauer im Büro begrenzen. Wenn wir dann feststellen, dass Aerosole immer noch Ausbrüche verursachen, können wir zusätzliche Maßnahmen ergreifen wie Luftreinigungsgeräte einzusetzen, die die Mikropartikel herausfiltern.

Wenn Sie Angestellter in einem Großraumbüro wären, welche Fragen würden Sie Ihrem Arbeitgeber stellen?
Ich würde fragen, wie der Raum belüftet wird und wie groß der Frischluftanteil ist. So darf ein Arbeitsplatz nur eine bestimmte Konzentration an Kohlendioxid, CO2, haben. Entweder macht es eine Lüftungsanlage automatisch oder ich muss es als Arbeitnehmer selber übernehmen, indem ich die Fenster regelmäßig öffne.

Wie oft muss der Arbeitnehmer dann lüften?
Hier empfehle ich, CO2-Sensoren anzuschaffen. Die kosten nur ein paar Euro, geben aber indirekt Auskunft darüber, wie viele Aerosole sich im Raum befinden. Je mehr CO2, desto mehr Aerosole gibt es im Büro. Und die Geräte zeigen, wie gut jemand lüftet. Wenn ich in einem fenstergelüfteten Büro arbeiten und mit mehreren Personen zusammensitzen würde, würde ich mir definitiv ein solches Gerät anschaffen. Als Laien haben wir kein Gefühl dafür, wie gut oder schlecht die Luft ist. Das merken wir erst, wenn wir aus dem Raum rausgehen, später wieder reinkommen - und es schlecht riecht. Zehn Minuten später haben wir uns dann wieder dran gewöhnt. Auch lassen wir uns schnell durch die Temperatur täuschen. Kälte wird als frische Luft wahrgenommen, das stimmt aber nicht. Im Herbst und Winter machen wir dadurch oft zu kurz die Fenster auf, weil wir denken, es ist ja schon frische Luft drin, weil es kühl ist.

Wenn in einem Büro alle 20 Minuten das Fenster für mehrere Minuten geöffnet wird, reicht das dann?
In der Regel ja, manchmal aber auch nicht. Etwa wenn der Wind nicht weht oder die Temperaturen im Raum und draußen gleich sind. Dann strömt nichts durchs Fenster. Da kann wieder nur ein CO2-Sensor einen Hinweis geben, wie gut die Luftqualität ist und damit wie viel Aerosole da sind.

Müssen wir also insgesamt nicht nur an Abstand, Händewaschen und Maske gewöhnen, sondern auch die Belüftung künftig ernster nehmen?
Ja, definitiv! Lüften ist extrem wichtig! Ich vergleiche das mal mit einer Heizungsanlage. Früher musste im Ofen von Hand Kohle oder Holz nachgelegt werden. Heute funktioniert die automatisch. Dagegen findet die Lüftung heute immer noch sehr oft händisch statt, weil an der Lüftungsanlage gespart wird. Dabei reden wir über Grenzwerte, die wir seit hundert Jahren ignorieren. Und jetzt plötzlich, seit Corona aufgetaucht ist, ist das Gejammer groß. Es gibt nachweislich keine Ausbrüche, wenn die Belüftung gut ist. Da frage ich mich: Warum bauen wir heute noch immer Häuser ohne automatische Belüftung? Statt dessen reden wir von Smart-Home-Automatisierung.

Quelle: Wirtschaftswoche